Foto: Roland Blunck

Der Mauerfall, mein Vater und ich — reloaded

Eine Sicht mit Migrationshintergrund.

Bobby Rafiq
8 min readNov 8, 2019

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Vor fünf Jahren ging dieser Text am 25. Jahrestag des Mauerfalls auf dem Autorenblog Carta online. Das Jubiläum fiel auf einen Sonntag. Ich war die Nacht unterwegs, wachte viel zu früh auf. Ein Rest an Rausch war wohl noch da und spülte Emotionales in die subkutanen Schichten. Um Gefühle in Worte zu fassen, reichte ein bloßes Kratzen. Ich schrieb drauf los. Was bis heute geblieben ist: Ein hartnäckiger Kater, der nicht enden will. Im Gegenteil. #LongRead

9.November 1989, später Abend, Berlin Charlottenburg. Mein Vater sitzt staunend vor dem Fernseher. Ein Mann, den Kommunisten und Sowjets aus der afghanischen Heimat vertrieben. Er sitzt einfach da und kann es kaum fassen: Ein Regime löst sich gerade in Luft auf, einer von ihm verhassten Ideologie ist die Idee abhandengekommen.

Menschen in komischen Klamotten, mit schaufenster-großen Hornbrillen und noch größerer Rührung schreien freudetaumelnd den Journalisten ins Reportermikrofon: Waaahnsinn! Hätte mein Vater dieses Wort nicht schon gekannt, der Abend des 9. November 1989 wäre eine gute Lehrstunde gewesen. Er schüttelt ungläubig den Kopf, wischt sich die Tränen vom Gesicht. Was für ein Ereignis. Was für ein Moment. Sie haben’s geschafft, und wir sind dabei!

Irgendwann liege ich im Bett, völlig aufgewühlt, muss eigentlich schlafen, der nächste Schultag rückt näher. Die halbe Nacht läuft das Radio: Invalidenstraße, Bornholmer Brücke, Brandenburger Tor, Friedrichstraße, live wird überall hin geschaltet.

Draußen vor meinem Fenster höre ich die ersten Trabis anrollen. Zweitakter, der neue Rhythmus West-Berlins. Ihr Gestank lässt jedes Greenpeace-Herz gefrieren. Für mich wird er zum Duft der Freiheit.

Jeden Tag nach der Schule fahre ich auf meinem pseudo BMX-Rad zum Brandenburger Tor. Bismarckstraße, Ernst-Reuter-Platz, Straße des 17. Juni: Der Fahrradweg als Chronik deutscher Geschichte.

Ich bin dreizehn, Hormone sorgen für ein Update meines Körpers und meiner Persönlichkeit. Umbruch. Pickel. Neuaufstellung. Oszillieren zwischen Babyhaut und Streuselkuchen. Selten haben Berlin und ich uns so identisch gefühlt. Pubertät eines Jungen und seiner Stadt.

An einem dieser Tage sehe ich einen Mann, der sich mit Hammer und Zirkel an die Mauer stellt: „Liebe Freunde, die Symbole der Deutschen Demokratischen Republik werden nun ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt“, ruft er mit breitem Grinsen einer applaudierenden Menschentraube entgegen. Er setzt den Zirkel an, zeichnet einen Kreis und — hämmert los.

Die letzten Atemzüge eines Imperiums

In den Wochen und Monaten danach bewege ich mich mit einem unbändigen Stolz durch Berlin, als hätte ich persönlich Honecker und Krenz aus dem Politbüro geohrfeigt. Vor den Banken bilden sich Schlangen. Begrüßungsgeld. Die Banane ersetzt den Bundesadler. Ich unterhalte mich mit wildfremden Menschen. Immer und immer wieder. Sie fragen nach dem Weg, nach der nächsten Sparkasse. Ich komme mir vor wie ein Stadtführer. Der in Kabul geborene Junge spürt seine neue Heimat, endlich.

Mein Vater ist guter Dinge. Wenige Monate zuvor zogen die Sowjets aus Afghanistan ab, nun ist die Mauer gefallen. Die letzten Atemzüge eines Imperiums. Ein herrliches Gefühl. Der Mann, der kein Jahrzehnt zuvor noch in seiner Heimat ein angesehener Kaufmann war, schlagartig zum Hausmann wurde, schöpft nun Hoffnung. Kann er bald zurück? In ein Land, in das er bis dahin nicht mehr reisen konnte, weil ihn während seines Familienbesuchs in Berlin ein schwerer Herzinfarkt wochenlang ans Bett fesselte und sich währenddessen die Ereignisse in Kabul so sehr überschlugen, dass der Weg zurück versperrt blieb.

In Deutschland wächst auf den ersten Blick zusammen, was zusammengehört, Afghanistan jedoch schlittert in die nächste große Scheiße. Die Mujaheddin übernehmen die Macht, bekämpfen sich gegenseitig, plündern und massakrieren die Bevölkerung. Die Regierung ist instabil. Kabul liegt unter ständigem Beschuss. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Mitte der Neunziger tritt schließlich eine schlagkräftige Truppe auf den Plan. Sie weiß das Chaos zu nutzen, bringt Afghanistan nach und nach unter ihre Kontrolle und den Menschen seit langem wieder irgendwie das Gefühl von Sicherheit: die Taliban. Vom Regen in die Traufe. Der Rest ist (leider noch keine) Geschichte.

Das Widersprüchliche war für uns Alltag

1989/90 trug ich meine ersten Dr. Marten’s mit Stahlkappe und frönte meinem links-alternativen Dasein. Die Pubertät schwächelte, während mein Vater täglich die BBC hörte und auf optimistische Nachrichten aus seinem Land hoffte. Bei uns zuhause konkurrierten zwei unterschiedliche Heimatbilder um die Hoheit am Esstisch — könnte man meinen, das Widersprüchliche war aber unser gelebter Alltag, wie bei vielen Familien, die heute ungefragt Teil einer breiten Diskussion sind.

Mein elf Jahre älterer Bruder, in Hamburg geboren, lief während seiner Oberschulzeit in Springerstiefeln durch die Gegend, hörte DAFs „Der Mussolini“, feierte seine Womack & Womack-Platten und vergötterte Prince. Meine Mutter führte eine Änderungsschneiderei und mein Vater schmiss den Haushalt.

Ein Jahr zuvor gab Michael Jackson sein legendäres Konzert auf dem Reichstagsfeld. Etliche meiner Cousinen und Cousins waren dort, sogar meine Großmutter wollte den King of Pop sehen und stand vor den Absperrgittern des Konzertgeländes. Natürlich wollte ich unbedingt dabei sein, aber meine Eltern waren der Meinung, das sei nichts für einen kleinen Jungen. So lief mein Vater mit mir die Straße des 17. Juni in Richtung Mauer entlang. Und irgendwo zwischen den grünen Bäumen des Tiergartens blieben wir stehen, hörten die schreienden Massen und Michael Jacksons Kreischen. Mein Vater schaute mich zufrieden an: Wenigstens ein Hauch von Thriller für den Jungen. Wobei ich schon ein wenig das Gefühl hatte, es wäre auch ein spannender Moonwalk für den Daddy gewesen.

In meiner Fantasie befand ich mich schon längst auf der Alternativen Liste West-Berlins. Renate Künast, Wolfgang Wieland und Christian Ströbele zählte ich zu meiner geistigen Verwandtschaft. Meine Mutter, stramme Antikommunistin, verfolgte meine politische Sozialisation mit größtmöglichem Argwohn. Einmal kam ich mit der taz nach Hause, sie zerriss die Zeitung. Nach kurzem Streit mussten wir beide lachen. In Berlin regierte mittlerweile die erste rot-grüne Koalition. Walter Momper, mit rotem Schal und „Alki-Nase“ so etwas wie der frühe Peter Staisch, hatte das Sagen.

Der Traum vom deutschlandweiten „Wir sind das Volk“

Ich entdeckte den Islam für mich. Mein wunderbarer Waschsalon, ein Drama nach dem Drehbuch von Hanif Kureishi, in dem ein pakistanisch-britisches Paar die Hauptrolle spielt, lief im Fernsehen. Dadurch wurde mein Bruder auf den Sänger Nusrat Fateh Ali Khan aufmerksam, der Teil der Filmmusik war. Nusrat, damals der wohl bekannteste Vertreter der sufistischen Qawwali-Musik weltweit, hatte eine Stimme, die einem die Vorstellung des Urschreis plastisch vor Augen und ins Ohr führte. Die Berliner zitty schrieb mal über ihn: „Eine Stimme wie alle Naturgewalten dieser Welt, Konzerte wie Gottesdienste und ein Ruf wie Donnerhall.“ Qawwali war für mich so etwas wie der Gospel des Orients.

Die Musik platze hinein in meine Suche nach Identität und Lebenssinn. Ich wurde zum Sufi. Ein Anhänger der islamischen Mystik. Ich war sehr spirituell und gläubig. Die aus heutiger Sicht krude Mischung aus links-progressiv-emanzipatorischem Polit-Denken und islamischer Weltsicht war damals für mich alles andere als widersprüchlich. Die Sufis des indischen Subkontinents waren bekannt für ihre liberale Haltung zu religiösen Praktiken und Koranexegese. Sexualität, Rausch und Lebensfreude sind für sie Brücken zu Gott. Diesseitiger kann das Jenseits wohl kaum sein. Praktisch der Gegenentwurf zu Gangbang im Paradies mit 72 Jungfrauen. Nusrat war mein Fleisch gewordener Lifestyle. In meinem Leben genoss er den Status eines Halbgottes.

In mir entstand etwas Neues. Ein multi-identitäres und facettenreiches Weltbild. Es bestand aus vielen kleinen und großen Mosaiksteinchen, die mir mein Lebenslauf in den Schoß katapultiert hatte. Es passte und es fühlte sich gut an. Es wuchs zusammen, was aus meiner Sicht zusammengehörte. Widersprüchlich und ambivalent, wie das Leben halt so ist.

Getragen von der Euphorie des Novembers 1989, von der Gewissheit, dass einfache Menschen etwas bewirken können, stürzte ich mich ins soziale Engagement und hielt mich für hochgradig politisch. Es waren meine persönlichen Aufbruchsjahre!

Ich träumte von einem deutschlandweiten „Wir sind das Volk!“. Von einer Bewegung, die auf den Wogen des 9.11.89 dafür sorgt, dass alle in Deutschland lebenden Menschen ein Wir-Gefühl entwickeln. Einer Bewegung, die ein wirklich neues Deutschland schafft, das seinen Grundrechten und seinen vielen Vorstellungen von Gleichberechtigung und Gleichheit seiner Bewohner gerecht wird. Ich wollte, dass sich in meiner Heimat ein Lebensgefühl etabliert, das die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten des Lebens nicht nur hinnimmt, sondern als Inspirationsquelle für die Zukunft ansieht. Das Land der Ideen — halt so ganz in echt.

Ein anderes neues Deutschland

Es kam anders. Die Freude meines Vaters über das Ende des Ostblocks musste bald weichen für ein ganz anderes neues Deutschland. Es trug mit „Rostock Lichtenhagen“, „Hünxe“, „Hoyerswerda“, „Mölln“, „Solingen“ andere Überschriften, als die von mir sehnlich erhofften. Klar und ausführlich beschreibt dies Daniel Bax aktuell in der tageszeitung.

Heute früh, 25 Jahre nach dem Mauerfall, am 09. November 2014, wachte ich mit einer seltsamen Stimmung auf. Ich lag noch im Bett, machte das Radio an, fuhr den Rechner hoch und blickte in mein Newsfeed auf Facebook. Überall Bilder von der Lichtgrenze, radioeins spielte Pink Floyds „Another Brick in the Wall“. Da war sie plötzlich wieder, die Stimmung von ’89. Freude, Euphorie, die Leichtigkeit des Seins. Ich roch Trabiluft, spürte das Kribbeln jener Tage und musste losheulen wie ein Schlosshund. Ausgerechnet ich, der Typ mit den wohl schüchternsten Tränendrüsen der Welt.

Mir schoss eine Flut von Bildern und Ereignissen durch den Kopf. Ich spürte die Euphorie jener Tage und alles, was danach war.

Ich erinnerte mich an meinen Vater, den ein Magentumor 1994 dahinraffte. Auf seiner Beisetzung gab ich den schon lange aufgekommenen Zweifeln an der Religion den letzten Raum, um mich vom Glauben zu verabschieden. Nusrat Fateh Ali Khan starb zwei Jahre später auf Konzertreise. Viele Abschiede auf einmal.

Ich dachte an den 11. September 2001, an die Jahre danach, an den neuen Afghanistan- und den Irakkrieg. Ich musste an das unsäglich kleingeistige und großrassistische Deutschlandballädchen von Thilo Sarrazin denken, an seinen Erfolg und was das über meine Heimat aussagt, an die wirr-faschistoiden Bartträger (leider sind das nicht die Hipster in meinem Kiez), an Kreuzberger, die heute, berauscht von ihrer Blutrünstigkeit, in Enthauptungsvideos des IS auftauchen und an die Tatsache, dass für viele die Mauer noch immer steht, Berlin eine Insel geblieben ist, weil es weiterhin vor allem rund um (West-)Berlin ein gewaltiges Nazi-Problem gibt.

Viele tolle Dinge sind in den letzten 25 Jahren passiert, aber irgendetwas ist auch gewaltig schiefgelaufen.

Momentan sind es vor allem schrille Islamdebatten, die kein echtes Wir-Gefühl entstehen lassen und dazu führen, dass Religionszugehörigkeit ethnisiert wird. Menschen müssen sich für ihre Identität rechtfertigen und zugleich um Verwandte in der alten Heimat bangen, die der Gefahr ausgesetzt sind, in die Fänge des IS zu geraten. Also in Gefangenschaft derer, für deren Anhänger sie hier in der neuen Heimat gehalten werden. Absurd! Es sind vor allem diese Diskussionen, die einem sagen: „Ihr seid nicht das Volk!“ Die plötzliche Gegenwart der Stimmung jener Novembertage und die tatsächliche der heutigen Zeit passen nicht zusammen. Jetzt, in diesem Moment wird mir klar, dass Tränendrüsen auch kotzen können. Die eine tat das heute morgen, während die andere in Nostalgie schwelgte.

Ich möchte keine einzige Sekunde meiner religiösen Zeit missen. Sie war intensiv, brachte Orientierung und öffnete mir in vielerlei Hinsicht die Augen. Ich möchte keine einzige Sekunde meiner politisch naiven und utopischen Zeit hergeben. Sie war wichtig und erweiterte meinen Horizont. Und: Ich bin so sehr glücklich darüber, den 9. November 1989 in meiner Stadt miterlebt zu haben.

Zum 50. Jahrestag des Mauerfalls wünsche ich mir einen Blick zurück, der uns allen das Gefühl gibt, dass wir es geschafft haben, von uns als ein Volk zu sprechen. Der uns nicht mit Scham erfüllt, weil wir unsere Werte auch so vielen flüchtenden Menschen verwehrt haben. Einen Blick, der uns alle mit Stolz erfüllt, weil wir gemeinsam für etwas gekämpft haben und wir uns nicht durch wirre Debatten und widerliche Konflikte noch weiter haben auseinander dividieren lassen. Dieser Kampf wird zäh und lang. Es werden Rückschläge kommen. Wer eine wirkliche Alternative kennt, möge die Stimme erheben.

Wenn wir das hinbekommen, dann wird, endlich und irgendwie, zusammengewachsen sein, was seit Jahrzehnten in Deutschland tatsächlich zusammengehört. Vielleicht wird es ein Wildwuchs sein. Aber das Leben ist widersprüchlich, und aushalten lässt sich so etwas gemeinsam viel besser. So - wie auch die geschichtliche Ambivalenz des 9. Novembers in Deutschland.

Update 2019: Kampfmodus!

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