Foto: Bobby Rafiq

Meine innere Stimme und 30 Jahre Deutsche Einheit

Bobby Rafiq

--

Es ist seltsam, wenn die Stimme, mit der du deine inneren Dialoge führst, die deinem Gewissen seinen Klang verleiht, die dich bremst oder dir Feuer macht, plötzlich, ganz ungewohnt, in einer anderen Sprache zu dir spricht.

Ich höre keine fremde Sprache, sie ist mir durch und durch vertraut. Es ist die Sprache meiner Eltern und Großeltern. Ich beherrsche sie fließend, kann in ihr diskutieren, lustig oder traurig sein, jedoch war meine gefühlte Muttersprache immer schon — mal mehr, mal weniger und bis auf vielleicht ein paar wenige englischsprachige Ausflüge — Deutsch. Träume? Auf Deutsch. Innere Dialoge? Auf Deutsch. Liebesbekundungen oder Wutanfälle? Auf Deutsch. Im Deutschen bin ich Langstreckenläufer, auf Dari bestenfalls ein Sprinter, der schnell außer Atem gerät.

Und nun macht das Deutsche Platz. Schafft Raum für die Sprache meiner Vorfahren, meines Ursprungs und für jenen Ort, an dem ich zur Welt kam, aber nicht aufwuchs. Merkwürdig, dabei sprinte ich in letzter Zeit nicht öfter als sonst. Im Gegenteil. Gelegenheiten auf Dari gibt es seltener als zuvor.

Wird das Afghanische etwa gar nicht stärker, das Deutsche vielmehr schwächer? 30 Jahre nach der Deutschen Einheit, 30 Jahre nach „Es wächst zusammen, was zusammen gehört“ geht in mir wohl etwas entzwei.

Gut, dass die Mauer gefallen ist. Gut, dass (irgendwie) zusammenwuchs, was zusammengehört. Darüber schreiben und reden am heutigen Tag genügend Menschen. Jedoch sind 30 Jahre Deutsche Einheit auch drei aufwühlende, zum Teil erschütternde Jahrzehnte. Es wächst immer noch zusammen, aber es driftet auch erheblich auseinander. An vielen Orten in ganz Deutschland.

Hoyerswerda, Hünxe, Rostock Lichtenhagen, Mölln, Solingen — damit begann für uns das erste Jahrzehnt. Es folgten die Jahre der Kollektivanschuldigungen und des Kollektivverdachts nach dem 11. September 2001. So startete das zweite Jahrzehnt. Das dritte begann mit einem Hoffnungsschimmer — eigentlich bereits zum Ende der zweiten Dekade — als das multikulturelle Deutschland im Sommer 2010 bei der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika für seinen filigranen Zauberfußball in den Himmel emporgehoben wurde. Es stellte sich aber als bloßes dramaturgisches Moment heraus, das für Fallhöhe sorgen sollte: Kein Vierteljahr später fabulierte sich Thilo Sarrazin in die Herzen der gesellschaftlichen Mitte und gab der Diskursverschiebung nach rechts einen kräftigen Schub. Und nun, zu Beginn des vierten Jahrzehnts, sitzen parteipolitisch organisierte Rassisten und Reaktionäre in allen Landesparlamenten und im Bundestag.

Zunehmend mehr Leute erzählen, sie würden konkret darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Manche wären längst weg, würde die halbe Welt der ganzen Welt nicht den Marsch nach rechts blasen und die Auswahl an Refugien daher stetig schrumpfen. Was am Anfang wie der Traum vom Auswandern klang, manifestiert sich längst als das Gefühl einer Flucht in Zeitlupe. Unter ihnen die größten Optimisten. Sie hielten stets dagegen, machten sich menschenverachtende Schwingungen breit. Auch diese wackeren geistigen Widerstandskämpfer werden leiser und nachdenklicher: Rufen sie die Polizei, wenn die Polizei gerufen werden müsste oder bestellt man sich nur weitere Personen, die einen hassen?

Es stimmt, wahrscheinlich war Deutschland noch nie so divers wie heute, auch in Medien, Kultur und Politik. Und selbst wenn es das letzte Aufbäumen reaktionärer und rechtsextremer Kreise sein sollte, weil die Mehrheit eigentlich anders tickt und diverser wird. Was aber passiert, bis die kritische Masse eine andere ist? Wie hoch wird der Preis bis dahin sein?

Fast 190 rechtsextreme Morde später zeigt die Gegenwart eindringlich, wie sehr auch in den Institutionen das Gedankengut der Täter am Wabern und Wirken ist. Natürlich sind nicht alle Behörden rechts, auch nicht die gesamte Polizei, sämtliche Rettungskräfte oder Gerichte, aber es reichen die vielen rechtsextremen Exklaven, die den Rechtsstaat buchstäblich machen.

Politische Verantwortungsträger nennen die Dinge so klar beim Namen wie nie, scheuen gleichzeitig klare Konsequenzen wie selten zuvor. Ausgeprägt bleibt der Fetisch für Einzelfälle, schwach die Affinität zu wissenschaftlichen Studien und anderen Fakten. Es wächst vor allem das Selbstvertrauen am rechten Rand und der Keil, den sie in die Mitte der Gesellschaft treiben.

Ist das zu viel Pessimismus an einem Feiertag? Nö, aber eine wichtige Ergänzung, die mitgedacht gehört. Oder um wessen Einheit geht es am vermeintlichen Nationalfeiertag, wenn nicht um die aller hier lebenden Menschen?

Wäre schön, wenn das fünfte Jahrzehnt geschmeidiger beginnen würde. Für mich fängt das vierte erst mal mit einem fünf Jahrzehnte alten Motto an: Trau keinem über 30.

--

--